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Peter Szondis Rolle als Vermittler neuester französischer Theorie in Deutschland ist bekannt. Als „erste Anlaufstelle der großen französischen Denker, deren Strahlkraft sich erst in den 80er und 90er Jahren in Deutschland entfalten würde“ (Lethen 2016: 58), hat Szondi vor allem die deutsche Rezeption von Jacques Derrida befördert. Auf Szondis durch seinen Assistenten Samuel Weber vermittelte Einladung hin hielt Derrida 1968 am drei Jahre zuvor an der Freien Universität Berlin eingerichteten Seminar für Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft zum ersten Mal einen Vortrag in Deutschland[1]. Die Einladung erfolgte im Rahmen von Szondis Oberseminar zum Thema „Probleme einer strukturalistischen Literaturwissenschaft“ im Sommersemester 1968. Der Seminarplan sah für zwei Seminartermine die Lektüre von Auszügen aus Derridas im Vorjahr erschienenen Büchern De la grammatologie und L’écriture et la différence vor. Mit Derridas Besuch in Berlin setzte ein regelmäßiger Austausch mit Szondi ein, der bis zu dessen Tod 1971 andauerte und – zumindest in seiner ereignisgeschichtlichen Dimension – in der Forschung inzwischen ausführlicher dokumentiert ist (cf. Reinisch 2016).

Dass aus der Reihe der im Seminarplan aufgeführten zeitgenössischen französischen Autoren gerade Derrida eingeladen wurde, ist vermutlich vor allem auf die Vermittlerrolle des US-Amerikaners Weber zurückzuführen, der von seinem Doktorvater Paul de Man schon vor der Buchveröffentlichung der Grammatologie auf Derrida aufmerksam gemacht worden war[2] (cf. Weber 2016: 303). Aus dem Seminarplan ergibt sich diese herausgehobene Rolle Derridas eigentlich nicht, haben hier doch – angesichts des Seminarthemas naheliegend – die großen Namen des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus, vor allem Jakobson, Genette und Barthes, ein viel größeres Gewicht (ebd. 305), wobei freilich nicht übersehen werden darf, dass der Titel des Seminars den Fokus auf die Probleme – und nicht das Potential – einer strukturalistischen Literaturwissenschaft richtet. Nichtsdestoweniger kann die Auseinandersetzung Szondis mit diesen Autoren im Kontext seines Bestrebens situiert werden, der Literaturwissenschaft eine theoretisch-methodische Fundierung zu geben, die ihrem Erkenntnisobjekt angemessen ist. In diesem Zusammenhang stand auch Szondis Interesse an der hermeneutischen Tradition, der er im Wintersemester 1967/68 eine Vorlesung widmete. Für sein Projekt einer methodologischen Erneuerung des Faches boten vermutlich die genannten Vertreter des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus und ihre von der Linguistik inspirierten Ansätze sehr viel konkretere Anschlussmöglichkeiten als Derridas ‚poststrukturalistische‘ Präsenzkritik, bei aller Hochachtung, die Szondi dessen minutiöser Textarbeit entgegenbrachte. Das zeigt etwa Szondis Fragment gebliebene Studie „Eden“, die in der Analyse von Paul Celans Gedicht „Du liegst“ abschließend auf de Saussures linguistische Terminologie und Jakobsons Unterscheidung von Metonymie und Metapher rekurriert[3] (s. Szondi 1978: 398). Im Folgenden möchte ich die Frage nach möglichen Anschlüssen Szondis an französische Strukturalisten mit Blick auf Roland Barthes konkretisieren und damit dem vielfach tendenziell ‚ereignisgeschichtlichen‘ Zugang, der in der Forschung Szondis Austausch mit Derrida bestimmt, einen möglichen Dialog der Texte Szondis und Barthes’ zur Seite stellen[4]. Meine Überlegungen könnten sich auf ausführlichere Äußerungen von Szondi selbst dazu stützen, wenn die 1967 von Pierre Bourdieu ins Auge gefasste Publikation einer französischsprachigen Fassung von Szondis „Über philologische Erkenntnis“ nicht erst lange nach Szondis Tod, 1975, realisiert worden wäre. Wie Solange Lucas anhand eines an Szondi gerichteten Briefes von Bourdieu zeigt, regte dieser für die französische Fassung des Artikels eine Ergänzung an, in der sich Szondi nicht nur im Hinblick auf die französische akademische Literaturwissenschaft positionieren sollte, sondern auch auf die Literaturtheoretiker um die Zeitschrift Tel Quel, denen Barthes zuzurechnen ist[5].

Barthes bei Szondi

In Szondis Strukturalismus-Seminar standen für vier der insgesamt zehn, stets in Zweierblöcken organisierten Sitzungen Texte von Barthes auf dem Programm[6]. Die beiden Eröffnungssitzungen sahen neben Texten von de Saussure, Trubetzkoy, Jakobson und Derrida – man fragt sich, wie die Studierenden dieses Programm bewältigt haben – die Lektüre von Barthes’ Aufsatz Éléments de sémiologie (1964) vor, außerdem die des Artikels des Ostberliner Linguisten Manfred Bierwisch „Strukturalismus: Geschichte, Probleme, Methoden“, 1966 in Enzensbergers Kursbuch publiziert. Zwei weitere nun fast ausschließlich Barthes gewidmete Sitzungen firmieren unter dem Titel „Zeichentheorie und Dramenanalyse: R. Barthes Sur Racine“. Der Plan für die Sitzungen ging indes weit über Barthes’ Sur Racine (1963) und erst recht die Dramenanalyse hinaus, indem er auch die mit dem Buch verbundene Kontroverse zwischen Barthes und dem Racine-Spezialisten Raymond Picard einbezog. Die Kritik Picards an Barthes’ Racine-Studien unter dem Titel Nouvelle critique et nouvelle imposture (1965) sollte ebenso im Seminar gelesen werden wie Barthes’ unter dem Titel Critique et vérité (1966) erschienene Replik. Weiterhin ist eine Auswahl aus Barthes’ Essais critiques (1964) in das Lektüreprogramm aufgenommen, von denen drei Essays explizit genannt sind: „L’activité structuraliste“, „L’imagination du signe“ und „Littérature et signification“[7]. Mit dem Barthes, der hier von offensichtlich außerordentlich lesewilligen Studierenden erschlossen werden soll, ist, wie im Folgenden noch eingehender zu zeigen ist, nur bedingt ein gänzlich homogenes theoretisches Korpus gegeben, und so stellt sich die Frage, welcher Wert den unterschiedlichen Texten Barthes’ für Szondis Projekt der Entwicklung einer genuin literaturwissenschaftlichen Methodik zugekommen ist.

Sandro Zanetti hat in seiner Beschäftigung mit Szondis Celan-Interpretation in „Eden“ gezeigt, wie nahe dessen Bemühen, die ‚Struktur‘ von Celans Gedicht freizulegen, dem kommt, was Barthes in „L’activité structuraliste“ als ‚strukturalistische Tätigkeit‘ konzipiert, die darin bestehe, „de reconstituer un ‚objet‘, de façon à manifester dans cette reconstitution les règles de fonctionnement (les ‚fonctions‘) de cet objet[8] (Barthes 1993 [1963]: 1329). Beider, Szondis wie Barthes’, Verfahren „im Spannungsfeld von Mimesis und Abstraktion“ bestehe darin, in der Interpretation eines Textes dessen sprachliche Struktur freizulegen und dabei einen „reflektierenden Standpunkt“ einzunehmen, der sowohl die Nähe zum gelesenen Text als auch „eine Nähe zu dem aufsucht, was das Gedicht reflexiv nachvollziehbar werden lässt“ (Zanetti 2015: 362). Beide Autoren bemühten sich darum, das herauszuarbeiten, was Szondi in seinem Aufsatz „Über philologische Erkenntnis“ in Anlehnung an Adorno als „Logik des Produziertseins“ bezeichnet (Szondi 1970 [1962/1967]: 34). In meinen eigenen Erwägungen zu einem Dialog der Texte von Szondi und Barthes möchte ich im Folgenden gleichfalls die Verbindungslinien von Szondis „Über philologische Erkenntnis“ zu Barthes’schen Theoremen und Lesepraktiken aufzeigen, allerdings nicht, um die Affinitäten des von Szondi vorgeschlagenen bzw. praktizierten Lektüreverfahrens mit Barthes’ Vorstellung von ‚strukturalistischer Aktivität“ abzugleichen. Stattdessen möchte ich das Problem semantischer Mehrdeutigkeit aufgreifen, das prominent in „Über philologische Erkenntnis“ verhandelt wird und das nicht zuletzt auch im Zentrum der Kontroverse um Barthes’ Sur Racine steht. Damit einher geht ein Nachdenken darüber, welche Stellung eigentlich Philologie bei beiden Autoren hat bzw. was für ein Begriff von Philologie ihren Argumentationen zugrunde liegt.

Grundsätzlich teilte Roland Barthes, wie auch andere strukturalistische Theoretiker, mit Szondi das Bemühen darum, die traditionellen Verfahren der Literaturwissenschaft und ihren unreflektierten Objektivitätsanspruch durch wissenschaftlich fundierte Methoden zu ersetzen. Während sich die französischen Ansätze dabei in großem Maße auf die Terminologie theoretischer Korpora wie Marxismus, Existentialismus, Psychoanalyse und Linguistik stützten, vertiefte sich Szondi seit Beginn seiner Lehrtätigkeit in die Geschichte der literarischen Hermeneutik. Beiden gemein ist die fortgesetzte Reflexion über das eigene Vorgehen, auch wenn diese Reflexion letztlich mit sehr unterschiedlichen Begrifflichkeiten verbunden ist. Während Szondi seine Forderung nach einer methodologisch reflektierten Literaturwissenschaft 1962 in „Über philologische Erkenntnis“ im Namen einer Neufundierung der Philologie als kritische „Wissenschaft des Singulären“[9] formulierte, ist ‚Philologie‘ eben der Begriff, unter dem Barthes all das vereinte, wovon er sich distanzierte. ‚Philologie‘ wurde für beide zum Schlüsselbegriff im Nachdenken über die methodischen Voraussetzungen der Literaturwissenschaft, wenngleich sie den Begriff zumindest tendenziell in diametral entgegengesetzter Weise operationalisierten.

Philologiekritik und die Pluralität der Bedeutung bei Barthes

Repräsentativ für Barthes’ wiederkehrende Invektive gegen die Philologie ist sein Beitrag „Texte (théorie du)“ zur Encyclopaedia Universalis, in dem es heißt: „On peut attribuer à un texte une signification unique et en quelque sorte canonique : c’est ce que s’efforcent de faire en détail la philologie et en gros la critique littéraire[10] (Barthes 1994 [1974]: 1682). Ganz im Sinne Diderots, der die Leistung eines guten Wörterbuchs in dessen Vermögen, die gewohnten Denkweisen zu verändern, bestimmte (siehe Diderot 1751: Sp. 642A), strebt auch Barthes’ Encyclopaedia-Artikel nichts weniger als die Formulierung eines neuen Konzepts von Literatur an. Der Begriff der Philologie dient dabei vorrangig als Mittel, seine eigene Position zu profilieren. Unter dem Banner der Philologie wird die gegnerische Seite subsumiert, welche, so Barthes, das literarische Werk als ein geschlossenes Objekt mit einer bestimmbaren und festgelegten Bedeutung verstehe, während der von ihm und seinen Mitstreitern vertretene Ansatz eine solche Vorstellung dezidiert ablehne. Auf den ersten Blick erscheint die antiphilologische Haltung, die Barthes in seinem Lexikoneintrag und anderswo einnimmt, vornehmlich eine bloß polemische Instrumentalisierung eines Schlagworts. Seit die Philologie im 19. Jahrhundert ihren Anspruch ausbildete, eine ‚Leitwissenschaft‘ zu sein (Lepper 2012: 113−117), ist die Ablehnung oder Aneignung des Begriffs ‚Philologie‘ ein wiederkehrender Schachzug im akademischen Ringen um die jeweils einflussreichste Methode, die avancierteste Konzeption des Untersuchungsgegenstandes und, in einem größeren Zusammenhang, um die eigene Stellung im Reigen der Disziplinen[11]. Es stellt sich jedoch die Frage, gegen was genau sich Barthes unter der Bezeichnung Philologie, ohnehin ein schillernder, in unterschiedlicher Ausdehnung und Bedeutung gebrauchter Begriff, wendet und ob die Arbeiten von Barthes, anstatt philologische Techniken gänzlich ad acta zu legen, nicht eher dazu beitragen, die Philologie selbst neu auszurichten – durchaus im Einklang mit anderen zeitgenössischen Ansichten wie derjenigen Szondis[12].

Zur Klärung dieser Frage bietet sich ein Umweg über einen Text an, der parallel zu Szondis Strukturalismus-Seminar entstand: Barthes’ Essay S/Z, basierend auf seinem Seminar an der École Pratique des Hautes Études in den Jahren 1967−1969. Dieses über zwei akademische Jahre geführte Seminar mit dem Titel „Analyse structurale d’un texte narratif : ‚Sarrasine‘ de Balzac“ war ausschließlich der Lektüre von Balzacs Novelle Sarrasine gewidmet. Wie aus Barthes’ Notizen für das Seminar hervorgeht, war seine Lektüre so minutiös, dass er am Ende seines Seminars kaum das Ende der Rahmenerzählung der Novelle erreichte. Das 1970 publizierte Buch S/Z zeugt von dieser Akribie, die Barthes als ein Vorgehen „pas à pas“ und „un ralenti“ bezeichnet (Barthes 1993 [1970]: 562−563)[13]. S/Z stellt Barthes’ umfangreichste Analyse eines einzelnen literarischen Textes dar, zugleich auch gewissermaßen seine methodisch anspruchsvollste Literaturanalyse in dem Sinne, dass hier nicht nur eine Vielzahl terminologischer Setzungen vorgenommen wird, sondern diese auch permanent reflektiert werden. Barthes selbst kündigte S/Z als die erste umfassende Strukturanalyse eines narrativen Textes an. Mit Blick auf den Stand strukturalistischer Textwissenschaft konstatierte er, dass sich der Strukturalismus nach einer Periode, in der er sich der Extraktion der Makrostrukturen von Texten gewidmet habe, nun einer neuen Herausforderung zu stellen habe: Er müsse zu einem umfassenderen Ansatz übergehen, der auch die Mikrostrukturen eines gegebenen Textes mit einbezieht (s. Barthes 1993 [1968]: 521). Wie wir sehen werden, verlässt Barthes aber im Grunde mit diesem Essay das Terrain des Strukturalismus.

Barthes’ auf solche ‚Mikrostrukturen‘ zielender Modus „pas à pas“, sein „ralenti“ wird vor allem darin sichtbar, dass Barthes Balzacs Novelle in 561 „lexies“ genannte Lektüreeinheiten unterteilt. Diese lineare Einteilung folgt bis zu einem gewissen Grad dem strukturalistischen Verfahren der Segmentierung und Rekombination, wie es Barthes in seinem auch in Szondis Seminar gelesenen Artikel „L’activité structuraliste” konzipierte[14]. Dabei überschreitet aber diese Segmentierung bei weitem strukturalistische Ansätze durch die schiere Anzahl der Segmente; diese ist viel zu groß, als dass es noch möglich wäre, aus ihnen eine zugrundeliegende Struktur zu extrahieren. Eine ‚Lexie‘ kann bei Barthes aus mehreren Sätzen bestehen, sie kann aber auch kleiner sein und nur einen Teil eines Satzes, nur einige Wörter umfassen. Sie wird weniger als Sinneinheit verstanden, welche im Hinblick auf eine gegebene Handlung signifikant ist, sondern vielmehr als ein künstlich isoliertes Segment, in dem der Leser bedeutungsstiftende Prozesse identifizieren kann. Wie detailliert Barthes dabei vorgeht, macht nicht zuletzt ein Blick auf den Umfang des Essays deutlich: Die zweiundzwanzig Seiten der am Ende des Essays abgedruckten Novelle werden von Barthes auf mehr als 200 Seiten analysiert, wobei er die unterschiedlichen und sich überlagernden Signifikationsprozesse einer jeden ‚Lexie‘ darstellt. Man könnte also auf den ersten Blick annehmen, dass S/Z ein Werk von beeindruckender philologischer Sorgfalt darstellt, zumindest wenn man Philologie im Sinne einer besonders detaillierten Aufmerksamkeit für den Text versteht, wie auch Roman Jakobson Philologie definiert haben soll, d.h. als „the art of reading slowly[15].

Auf den ersten Seiten von S/Z begegnet uns jedoch erneut Barthes’ Ablehnung der Philologie, oder zumindest die Ablehnung der ‚Kaste‘ der Philologen:

Les uns (disons : les philologues), décrétant que tout texte est univoque, détenteur d’un sens vrai, canonique, renvoient les sens simultanés, seconds, au néant des élucubrations critiques. En face, les autres (disons : les sémiologues) contestent la hiérarchie du dénoté et du connoté […][16]

Barthes 1993 [1970]: 559

Barthes begründet auch hier seine Ablehnung damit, dass die Philologen nur eine einzige Bedeutung als die primäre, korrekte Bedeutung eines Wortes, eines Satzes, eines Textes zuließen. Andere Bedeutungen würden allenfalls als Nebenbedeutungen zugelassen. Die Semiologen hingegen, zu denen sich auch Barthes selbst zählt, bestritten diese traditionelle Hierarchie und proklamierten eine Pluralität gleichwertiger Bedeutungen.

Wenn Barthes die Suche nach der einen, richtigen Bedeutung als ‚Philologie‘ abwertet, hat dies möglicherweise mit der Langeweile zu tun, die er in seinem Studium der Altphilologie empfand[17]. Zweifellos ist damit aber kaum der entscheidende Punkt in seiner Ablehnung der Philologie berührt. Dies zeigt sich nicht zuletzt, wenn man sich vor Augen führt, welche Rolle der Begriff ‚Philologie‘ in Barthes’ berühmter Kontroverse mit dem Literaturwissenschaftler Raymond Picard spielte, die auch Szondi im Rahmen seines Strukturalismus-Seminars thematisierte. Picard hatte Barthes’ Essays über Racine scharf kritisiert, ja Barthes philologische Unredlichkeit vorgeworfen (s. Picard 1965). Teilweise wurde dieses Verdikt durch die von Barthes in seiner Racine-Lektüre verwendete Terminologie provoziert, insbesondere durch seinen Rückgriff auf psychoanalytisches Vokabular. Picard warf Barthes nicht nur eine ungenaue, metaphorische Verwendung von Fachbegriffen vor, die seiner Ansicht nach zu einer gänzlich subjektiven und willkürlichen, wenn auch dogmatisch formulierten Konstruktion einer Racine’schen Anthropologie „au gré de ses [Barthes’] besoins“ führte[18], er wertete dies auch als einen fatalen Mangel an historischer Kontextualisierung (ebd., 79). Für ihn kollidierte das zeitgenössische analytisches Vokabular ebenso mit einer Würdigung Racines wie die Subjektivität der Barthes’schen „besoins“. Picard warf Barthes aber auch grundsätzliche Fehler hinsichtlich der Bedeutung von Wörtern vor, Missverständnisse, die, so Picard, wiederum ihren Ursprung in Barthes’ ahistorischer Lektüre hätten. Picard nennt als Beispiel das Wort „respirer“, das Barthes – so Picard – in der Bedeutung des 20. Jahrhunderts als ‚atmen‘ verstanden habe, nicht aber in der Bedeutung, die das Wort zur Zeit Racines im 17. Jahrhundert gehabt habe (ebd., 53−54; s. auch Pilcher Keuneman 1987).

Man versteht, warum sich Szondi für diese Kontroverse interessierte, denkt man an seine in „Über philologische Erkenntnis“ formulierten Vorbehalte gegenüber dem „berechtigten Drang der Philologie zur Objektivität“, welche vom individuellen, subjektiven Erschließen eines Textes zugunsten einer „Objektivität“, die sie „einzig vom Belegmaterial“ erhofft (Szondi 1970 [1962]: 18, vgl. auch 25, 27), absehen zu müssen meint und die Treue zur Historizität des Materials nur um den Preis der eigenen Geschichtsvergessenheit hält. In der Kritik Picards zeigt sich zudem eben die Problematik, die Szondi in seiner posthum publizierten Vorlesung Einführung in die literarische Hermeneutik in Bezug auf das Verhältnis von Hermeneutik und Geschichtlichkeit erörtert und im Gegensatz zwischen grammatischer und allegorischer Auslegung eines Textes zuspitzt, im Gegensatz zwischen einem Beharren auf dem sensus litteralis, dem ursprünglich Gemeinten eines nun, durch historischen Abstand, „fremd gewordenen Zeichens“, und einer Auslegung, die der historischen Position des Auslegers, dessen „Vorstellungswelt“ entstammt (Szondi 1975: 19). Aus Szondis Perspektive erscheint Picard tendenziell als Vertreter einer sich – fälschlich – „vom eigenen historischen Standpunkt unabhängig wähnende[n] Philologie“ (ebd., 25), wenn dieser annimmt, es ließe sich das Problem der Historizität des terminologischen Zugangs zu einem gegebenen Werk dadurch lösen, dass man die historische Distanz durch ein Zurückversetzen in die Epoche der Textentstehung eskamotiert. Szondis Problematisierung der scheinbaren Objektivität der Philologie und seine Forderung, auch die Philologie bedürfe ein „Bewußtsein der eigenen Historizität“ (ebd., 24), da der eigene Standpunkt doch notwendig auch bereits die philologische Bestimmung eines sensus litteralis affiziert, zielt auf eben das, was auch Barthes im letzten der drei in Sur Racine versammelten Essays einfordert: Die Reflexion auf die eigene Geschichtlichkeit ist Bedingung jeglicher Literaturgeschichtsschreibung (vgl. Barthes 1963: 155).

Barthes reagierte auf Picards Vorwürfe in seinen gleichfalls in Szondis Seminarprogramm aufgenommenen Essays Critique et vérité und „Littérature et signification“. Auf Picard bezogen und diesen zitierend schreibt er in Critique et vérité:

On professe qu’il faut ‘conserver aux mots leur signification’, bref que le mot n’a qu’un sens : le bon. […] On en vient ainsi à de singulières leçons de lecture : il faut lire les poètes sans évoquer : défense de laisser aucune vue s’élever hors de ces mots si simples et si concrets […][19]

Barthes 1994 [1966]: 22−23

Trotz seiner Polemik gegen Picard erkennt Barthes allerdings eine Berechtigung philologischer Rekonstruktion an:

[L]e discours de l’oeuvre a un sens littéral, dont la philologie, au besoin, nous informe; la question est de savoir si on a le droit, ou non, de lire dans ce discours littéral, d’autres sens qui ne le contredisent pas; ce n’est pas le dictionnaire qui répondra à cette question, mais une décision d’ensemble sur la nature symbolique du langage[20]

ebd., 22

Barthes argumentiert hier also nicht wie Szondi in seiner Vorlesung Einführung in die literarische Hermeneutik, sondern er bestreitet den Primat der Philologie unter Berufung auf die immanente Vieldeutigkeit eines jeden literarischen Textes. Im weiteren Verlauf des Essays entscheidet sich Barthes dann eindeutig für die Freiheit des Lesers, die Pluralität der Bedeutungen losgelöst von jeglicher Verankerung in den historischen Gegebenheiten der Textentstehung zu erkunden und auch frei von der Notwendigkeit, eine Interpretation an die vermeintlichen Absichten des Autors zu binden.

Während Barthes in Critique et Vérité zunächst einräumt, dass die Philologie an erster Stelle steht, aber nur der erste Schritt bei der Erkundung der vielfältigen Bedeutungen ist, die einem literarischen Werk innewohnen, wird der Begriff ‚Philologie‘ in S/Z polemisch zur Bezeichnung für eine Leseweise, die nur eine Bedeutung eines Textes zulässt, die richtige. Und nun wird sie eindeutig zurückgewiesen. Barthes’ eigener Ansatz in S/Z ist dem diametral entgegengesetzt: Anstatt in der Interpretation eine einzige – richtige – Bedeutung bestimmter Textstellen zu bestimmen, diversifiziert er seine Zugänge zum Text, um die möglichen Bedeutungen zu vervielfachen. So erklärt er in Bezug auf seine „pas à pas“-Lektüre: „Ce qui sera noté c’est […] la translation et la répétition des signifiés. Relever systématiquement pour chaque lexie ces signifiés ne vise pas à établir la vérité du texte (sa structure profonde, stratégique) mais son pluriel […][21] (Barthes 1993 [1970]: 564). Um diese Pluralität von Bedeutungen zu Tage zu fördern, wird die Methode einer Entschleunigung des Lesens durch die Wiederholung des Lesevorgangs ergänzt. Ähnlich wie Deleuze sieht auch Barthes die Wiederholung – hier die Wiederholung der Lektüre ein und desselben Textes – als eine Bewegung, die nicht Identität, sondern Differenz produziert:

Mais pour nous qui cherchons à établir un pluriel, nous ne pouvons arrêter ce pluriel aux portes de la lecture : il faut que la lecture soit elle aussi plurielle […]. La relecture […] est ici proposée d’emblée, car elle seule sauve le texte de la répétition (ceux qui négligent de relire s’obligent à lire partout la même histoire), le multiplie dans son divers et son pluriel […]. Si donc […] on relit tout de suite le texte, c’est pour obtenir, comme sous l’effet d’une drogue (celle du recommencement, de la différence), non le ‘vrai’ texte, mais le texte pluriel : même et nouveau[22]

ebd., 564−565

Die differentielle Pluralität, auf die Barthes abzielt, ist somit sowohl auf der Ebene des Textes als auch auf der Ebene der Analyse angesiedelt; sie hat sowohl eine reflexive als auch eine produktive Komponente. Der Schlüssel zu beidem ist das langsame und wiederholende Lesen. Um die (wenn auch begrenzte) Pluralität der Bedeutung in Balzacs Novelle herauszuarbeiten, bestimmt Barthes zudem fünf verschiedene Lesarten, fünf so genannte Codes. Jede Lexie wird nach mindestens einem Code, oft aber nach mehreren, wenn nicht gar allen fünf Codes gelesen oder dekodiert. Um diese durch die fünf Codes produzierte Pluralität abzubilden, entscheidet sich Barthes in S/Z für eine typographische Darstellung, die die unterschiedlichen Lektüreergebnisse parallel anordnet, ohne sie in einer harmonisierenden Gesamtaussage zusammenzufassen und damit zu reduzieren (vgl. ebd., 568). Um die verschiedenen Ebenen der Lektüre – ‚Lektüre‘ in ihrer mehrfachen Bedeutung als das zu lesende Schriftgut, als Vorgang des Lesens und als eine bestimmte Interpretation – zu markieren, operierte Barthes zudem mit unterschiedlichen Schriftarten. Über diese lineare Gliederung des Buches gemäß der Einteilung in 561 Sinneinheiten und der vertikalen Gliederung gemäß der fünf ‚Stimmen‘ des Textes, die durch die fünf Dekodierungsmodi akzentuiert werden, hinaus ist das Buch in 93 Kapitel gegliedert, die in wieder anderer, größerer Schrifttype die fortschreitende Lesepraxis theoretisch reflektieren. So wird der Untersuchungsgegenstand, Balzacs Novelle, von einem ausufernden kritischen Diskurs überlagert, der in gewisser Weise wie ein überbordender philologischer Kommentar wirkt, der jedoch permanent sein eigenes Vorgehen und seine eigenen methodischen Voraussetzungen reflektiert. Barthes’ Kriterium für die Qualität des Gesamtergebnisses seiner Lektüre ist nicht die Feststellung irgendeiner im Rekurs auf einen sensus litteralis verifizierbaren Wahrheit über Balzacs Novelle, sondern allein die Konsistenz der Analyse.

Philologie der Mehrdeutigkeit bei Szondi

Szondis Vorlesung Einführung in die literarische Hermeneutik problematisierte, wie wir gesehen haben, die Selbstgewissheit der Philologie, in dem er auf die historische Bedingtheit jeder Bestimmung eines sensus litteralis verwies; er beschnitt ihre Vorstellung, objektive Ergebnisse erarbeiten zu können, und forderte die Reflexion auf die eigenen Verfahren ein. Ziel seiner Überlegungen war die Grundlegung einer literarischen Hermeneutik, verstanden als eine „zwar nicht unphilologische, aber die Philologie mit der Ästhetik aussöhnende Auslegungslehre“ (Szondi 1975: 25). Diese ‚Aussöhnung‘ lässt sich in dem Sinne verstehen, dass die Philologie nicht das sichere Terrain bereitet, auf das die ästhetische „Würdigung“ (ebd.) eines Textes aufbauen kann, sondern dass jede philologische Bestimmung von vornherein in das hermeneutische Unterfangen der Deutung eines ästhetischen Gebildes mit hineingenommen werden muss. Der ästhetische Charakter wird „zur Prämisse der Auslegung selbst gemacht“ (ebd., 13), der auch die philologische Klärung bestimmter Wörter oder Wendungen unterliegt.

Wie die Hermeneutik-Vorlesung bemüht sich auch Szondis 1962 erschienener und 1967 erneut publizierter Aufsatz „Über philologische Erkenntnis“, Philologie und Hermeneutik – als Lehre von der Auslegung literarischer Werke bzw. in der von Szondi zitierten Wendung Schleiermachers, als Kunstlehre oder Technik zum „vollkommene[n] Verstehen einer Rede oder Schrift“ (Szondi 1970 [1962]: 9) – in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Schon 1962 wird wie in der späteren Vorlesung die Stellung der Philologie zunächst insofern geschwächt, als ihr abgesprochen wird, einen dem Einlassen auf ein ästhetisches Gebilde vorgeordneten gesicherten Grund schaffen zu können. Stärker vielleicht noch als in der Hermeneutik-Vorlesung fallen in dem Aufsatz von 1962 Hermeneutik und Philologie tendenziell in eins, insofern hier hermeneutische Erkenntnis „auf das bloße Textverständnis beschränkt werden soll“ (ebd., 9). Dieses Textverständnis ist bereits hermeneutisch grundiert und keineswegs faktisch gegeben. Auch hier ist Philologie also keine positivistische Textwissenschaft, sondern integraler Teil der Hermeneutik und nicht dieser vorgeschaltet. Mag sich der Aufsatz auch „einer spezifisch philologischen Erkenntnisproblematik“ widmen, so besteht diese Problematik eben in der Unmöglichkeit, philologisches Wissen unabhängig von Fragen der Auslegung behandeln zu können. Diese Problematisierung der Stellung der Philologie zur Hermeneutik weist nun Parallelen zu Barthes’ Plädoyer für eine multiple, der Pluralität der Verstehensmöglichkeiten Rechnung tragende Lektüre auf, wenngleich sie bei Szondi eben im Namen der von Barthes abgelehnten Philologie erfolgt.

Bei allen Unterschieden, die Szondis und Barthes’ Weisen, literarische Texte zu lesen, offensichtlich trennen – ein experimentelles Lektüre- und Publikationsprogramm wie dasjenige von S/Z wäre bei Szondi kaum denkbar –, treffen sich ihre Positionen doch in entscheidenden Punkten. Das zeigt sich zunächst darin, dass sich auch bei Szondi aus der Erschütterung philologischen Selbstverständnisses eine Dynamisierung ihrer Praxis ergibt:

Dem philologischen Wissen ist ein dynamisches Moment eigen, nicht bloß weil es sich, wie jedes Wissen, durch neue Gesichtspunkte und neue Erkenntnisgewinne ständig verändert, sondern weil es nur in der fortwährenden Konfrontation mit dem Text bestehen kann. […] Das philologische Wissen hat seinen Ursprung, die Erkenntnis, nie verlassen, Wissen ist hier perpetuierte Erkenntnis

ebd., 11

Diese Dynamisierung prägt sich aus in der Bevorzugung des Begriffs der ‚Erkenntnis‘ gegenüber dem des ‚Wissens‘; ist letzter konnotiert mit dem Gedanken gesicherter Bestände, betont erster die zeitliche Dimension einer sich plötzlich einstellenden neuen Einsicht. Szondi versteht also Philologie weniger als Technik zur Ermittlung der korrekten Version eines Textes bzw. der korrekten Bedeutung eines Ausdrucks, sondern vielmehr als ein fortdauerndes, nie zum Stillstand kommendes Bemühen um Erläuterung, genauer noch als „kritische Tätigkeit“ im Rekurs auf die Etymologie des Wortes ‚Kritik‘, abgeleitet vom griechischen Verb ‚krínein‘ (‚unterscheiden‘, ‚trennen‘). Philologie als kritische Tätigkeit ist dabei konzipiert in Anlehnung an die angloamerikanischen und französischen Bezeichnungen für Literaturwissenschaft; sie ist nicht im Sinne einer wertenden Beurteilung zu verstehen, sondern im Sinne einer Erkenntnis, die sich wesentlich durch das Herausarbeiten, ja Produzieren von Unterscheidungen konstituiert. Die Tätigkeit „des Scheidens und Entscheidens“[23] (ebd., 13) als der Individualität eines jeden Kunstwerks angemessenes Verfahren hat damit ein produktives Element. Frappant ist hier die Parallelität bis in die Formulierung hinein mit Roland Barthes’ Verteidigung seiner Racine-Studien in Critique et vérité, wenngleich ohne die bei Barthes angedeutete politische Dimension, wo es heißt: „Cependant, la véritable critique des institutions et des langages ne consiste pas à les ‚juger‘ mais à les distinguer, à les séparer, à les dédoubler“. (1994 [1966]: 19)[24]

Die produktive Dimension einer hermeneutisch reflektierten Philologie beruht, folgt man Szondi, darauf, dass Bedeutung beim literarischen Kunstwerk und allemal beim in „Über philologische Erkenntnis“ vorrangig behandelten hermetischen Gedicht nicht durch eine scheinbare Faktizität des literalen Materials vorgegeben ist, sondern sich erst im subjektiven Vertiefen in das Kunstwerk ergeben kann:

[E]s gehört zu den Gefahren der philologischen Arbeit, daß die grundsätzliche Bevorzugung der Faktizität gegenüber der Deutung als bloß subjektiver einem jeden Beleg schon auf Grund seines Vorhandenseins das zuschreiben lässt, was ihm zwar per definitionem eigen ist, worüber aber eine jede als Beleg herangezogene Stelle sich erst einzeln auszuweisen hätte, nämlich: Beweiskraft

Szondi 1970 [1962]: 21

Noch deutlicher wird Szondis Betonung der subjektiven Dimension auch der philologischen Bestimmung von Bedeutung, wenn er die Frage aufwirft, „ob in der Literaturwissenschaft das objektive Material von der subjektiven Interpretation überhaupt streng kann getrennt werden“ (ebd., 25). Wir können von dieser Fundierung der Wissenschaftlichkeit der Literaturwissenschaft im Eingeständnis ihrer Subjektivität noch einmal den Bogen zur Kontroverse um Barthes’ Sur Racine schlagen, ist damit doch eben der Punkt berührt, den Ricard gleich eingangs seiner Schrift Nouvelle Critique ou nouvelle imposture thematisierte: Barthes’ programmatisches Eingeständnis einer „impuissance à dire vrai sur Racine[25] (Barthes 1963: 166) öffnet für Picard nur einem schlechten Relativismus Tür und Tor. Damit fällt er letztlich eben dem von Szondi beklagten Verkennen „einer spezifisch philologischen Erkenntnisproblematik“ zum Opfer. Während Picard Barthes’ Sur Racine beschließende Definition vom Kritiker als „un être pleinement subjectif, pleinement historique[26] (ebd., 167) nurmehr polemisch zitiert und zum Ausgangspunkt seiner Kritik machte, kann mit Blick auf Szondi davon ausgegangen werden, dass gerade dieses Eingeständnis unhintergehbarer Subjektivität und einer jede ‚Objektivität‘ verunmöglichenden eigenen historischen Situiertheit Barthes’ Text für das Strukturalismus-Seminar interessant machte.

Schließlich bildet Szondi darin eine Nähe zu Barthes’ Überlegungen und Praktiken aus, dass er wie letzterer argumentiert, eine jede Lektüre, ob sie nun philologisch genannt wird oder nicht, käme nicht umhin, sich mit Polysemie und Mehrdeutigkeit auseinanderzusetzen. Wie Barthes geht auch Szondi davon aus, dass diese Mehrdeutigkeit eine grundlegende Tatsache ist, die sich aus der besonderen Natur von Texten ergibt, insofern ihre Materie sprachliche Zeichen sind. Die von Szondi ohnehin mit Skepsis betrachtete positivistische Beweisführung durch Parallelstellenabgleich kann diesem Umstand nicht abhelfen. Mehr noch: Die Mehrdeutigkeit ist damit unabhängig von der Intention des Autors. Sie kann daher nicht durch den Rückgriff auf Versuche der Rekonstruktion der Intention des Autors gelöst werden und ist auch nicht auf Fälle beschränkt, in denen der Autor Mehrdeutigkeit intendiert hat:

Das wissenschaftliche Postulat, daß nur die vom Dichter intendierte Mehrdeutigkeit vom Verständnis zu berücksichtigen ist, scheint nämlich weder der Eigenart des dichterischen Prozesses, noch der Eigenart des sprachlichen Kunstwerks ganz gerecht zu werden. Denn es setzt voraus, daß ein poetischer Text die Wiedergabe von Gedanken oder Vorstellungen ist. […]

Sobald aber das Wort nicht mehr als bloßes Ausdrucksmittel gesehen wird, gewinnt es eine Eigenmacht, die es verwehrt, seine Auslegung einzig von der Absicht des Dichters abhängig zu machen

ebd., 30−31

Die Auseinandersetzung mit Mehrdeutigkeit führt Szondi dazu, die Bedeutung eines Textes von einem vom Autor kontrollierten und intendierten Ausdruck hin zur Eigenbewegung des sprachlichen Materials zu verlagern. Ohne damit die Instanz des Autors aufgeben zu wollen, wie das Barthes 1968 in seinem berühmten Essai „La mort de l’auteur“ fordern wird, vollzieht diese Verlagerung doch tendenziell eine ähnliche Bewegung in dieser Ablösung der Deutung von Fragen der Intention. Bei Barthes deutet sich die in „La mort de l’auteur“ und auch S/Z radikalisierte Haltung schon in seinen Essays über Racine und erst recht in seiner Replik auf Picard von 1966 an. Für Szondis Versuche, das Verhältnis von textueller Eigenbewegung und Autorbezug in der Interpretation auszubalancieren, sind vermutlich letztgenannte Texte Barthes’ gerade darin besonders interessant, dass hier die Ablösung von der Autorintention nicht in ein Aufgeben des Bezugs auf Racine mündet, sondern dazu dient, nachzuvollziehen, wie sich eine Racine’sche Anthropologie in den dramatischen Text einschreibt. Der Vergleich mit Barthes bezeugt nicht zuletzt, wie sehr Szondis Auseinandersetzung mit dem Problem der Mehrdeutigkeit literaturwissenschaftliche Grundfragen berührt. Mag seine konkrete literaturwissenschaftliche Praxis wenig mit Barthes’ pluralisierenden Lektüreverfahren gemein haben, teilt sie mit letzteren doch die Skepsis hinsichtlich einer Wissenschaft, die ihre Wissenschaftlichkeit durch unzulässige Komplexitätsreduktion gewinnen will.

Es lässt sich abschließend festhalten, dass Szondis Ausführungen zur Philologie auf zumindest dreierlei Weise eine Nähe zu Positionen Barthes’ ausbilden. Diese besteht zunächst in beider Annahme einer grundsätzlichen und unhintergehbaren, von jeder Autorintention unabhängigen Pluralität der Bedeutungen, der die literaturwissenschaftliche Analyse Rechnung tragen muss, wenn sie ihrem Gegenstand angemessen sein will. Bei beiden führt dieses Einlassen auf Mehrdeutigkeit nicht zum Plädoyer für Beliebigkeit und interpretatorische Willkür, sondern steht im Zeichen methodischer Selbstreflexion. Zweitens eint beide ein Verständnis von Literaturwissenschaft als dynamischer Tätigkeit. Bei Barthes zeigt sich dies etwa auf den ersten Seiten von S/Z, wenn er seine eigene mobile Praxis gegen das strukturalistische Standardziel der Aufdeckung einer einem Text oder mehreren Texten zugrundeliegenden Struktur profiliert, ein Ziel, das auch noch den ersten seiner drei Racine-Essays, „L’homme racinien“, gerade in dem „Structure“ überschriebenen Teil domminierte, welcher eine sämtlichen Dramen Racines zugrunde liegende Struktur zu bestimmten suchte. Bereits in der Abkehr vom Begriff Struktur hin zum Begriff der Strukturierung in S/Z wie etwa auch in der Rede von einer ‚activité structuraliste‘, im gleichnamigen Aufsatz von 1963 schlägt sich in nuce die Idee einer dynamischen Prozesshaftigkeit nieder[27]. Bei Szondi prägt sich die Einsicht in die Dynamik des analytischen Prozesses vor allem in seiner Definition von Philologie als „perpetuierte Erkenntnis“ aus. In der Praxis ist Szondis Vorgehen zweifellos methodisch sehr viel weniger experimentell als Barthes’ psychoanalytisch und existentialistisch grundierte Auseinandersetzung mit den Dramen Racines und seine programmatisch diversifizierte Lektüre in S/Z. In den Grundannahmen weisen Szondis methodische Überlegungen aber in eine ähnliche Richtung, wird die Wissenschaftlichkeit der Literaturwissenschaft doch gerade darin bestimmt, dass sie auf ein objektives und ein für alle Mal gesichertes Wissen im Hinblick auf den Bedeutungsgehalt von Texten verzichtet und sich stets aufs Neue auf den Untersuchungsgegenstand einlässt. Schließlich zeigt sich die Affinität der Positionen Barthes’ und Szondis in der Konzeption der Literaturwissenschaft als ‚Kritik‘ im Sinne einer wesentlich durch das Unterscheiden gekennzeichneten Praxis. Dieser Aspekt wird, wie gezeigt, in Szondis „Über philologische Erkenntnis“ adressiert, er stellt aber auch eine wesentliche Qualität des analytischen Ansatzes in S/Z, ja im Grunde von Barthes’ gesamtem Werk dar. In S/Z wird dieser Gestus des Differenzierens bereits im Titel auf den Punkt gebracht, identifiziert Barthes doch in der minimalen graphischen (nicht phonetischen) Differenz zwischen den beiden Buchstaben ‚z‘ und ‚s‘ den zentralen Konflikt von Balzacs Novelle (vgl. ebd., 626). Der Gestus der Differenzierung erfasst bei Barthes nicht zuletzt die Terminologie selbst, u.a. in der in S/Z vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen zwei Arten von Texten, dem lesbaren („lisible“) Text einerseits und dem schreibbaren („scriptible“) Text andererseits. Dieser zweite Typus, der schreibbare Text, ermöglicht eine Lektüre als Praxis, die nicht bloßer Konsum eines Textes ist, sondern einer lustvollen Produktivität weicht, die es dem Leser oder der Leserin erlaubt, „[d’]accéder pleinement à l’enchantement du signifiant, à la volupté de l’écriture[28] (ebd., 558). Angesichts dieser dezidierten Erotisierung der Lektüre, gewissermaßen die etymologische Bedeutung von Philologie als „Liebe zu den Wörtern“ aktualisierend, muss allerdings auch vorliegender Aufsatz die Lehre aus der Konzeption von Literaturwissenschaft als differenzierender Tätigkeit ziehen – denn hier ist ein Punkt erreicht, bei dem die bislang konstatierte Parallelität der Positionen Barthes’ und Szondis grundlegenden Differenzen weicht.

Nichtsdestoweniger erlaubt der Vergleich beider Positionen zu zeigen, dass sich Szondis Neukonzeption von Philologie in wesentlichen Punkten mit eben dem trifft, was Barthes zeitgleich als ein genuin antiphilologisches Lesen profiliert. Die mit Szondi geteilte Einsicht vor allem in die essenzielle Mehrdeutigkeit und die Pluralität der Lesemöglichkeiten eines jeden Textes, die die Interpretation zu entfalten hat, führt Barthes letztlich dazu, sich von der strukturalistischen Methodologie zu distanzieren. Diese Distanzierung bedeutet weder den Verzicht auf das linguistische Vokabular noch den Verzicht auf die strukturalistische Weiterführung der Saussure’schen Konzeption des sprachlichen Zeichens, sondern eine Problematisierung der Tendenz strukturalistischer Textanalyse, im Freilegen allgemeiner Strukturen die Singularität eines Textes zu reduzieren. Barthes’ Verlangsamung des Lesevorgangs und die Entfaltung der vielfältigen Verästelungen des Sinns wollten eben dieser Reduktion entgegenwirken[29]. Einiges spricht dafür, dass genau diese Problematisierung strukturalistischer Methoden zumindest teilweise dem entspricht, was Szondi bei der Formulierung seines Seminartitels „Probleme einer strukturalistischen Literaturwissenschaft“ im Sinn hatte.